Rechtsschutz für Diesel-Käufer BGH: Rückabwicklung des Kaufs durch Widerruf der Finanzierung auch nach vollständiger Rückzahlung des Darlehens möglich

Nach zwei aktuellen Entscheidungen des BGH (Urteil vom 23.01.2018 – XI ZR 298/17 und Urteil vom 25.04.2017 – XI ZR 314/16) kann ein Verbraucherdarlehensvertrag widerrufen werden, obwohl das Darlehen bereits getilgt und der Vertrag damit beendet worden ist. Das Recht, einen Verbraucherdarlehensvertrag zu widerrufen, kann jedoch verwirkt werden.

Die Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen der illoyal verspäteten  Geltendmachung von Rechten setzt neben einem Zeitmoment ein Umstandsmoment voraus. Ein Recht ist verwirkt, wenn sich der Schuldner wegen der Untätigkeit seines Gläubigers über einen gewissen Zeitraum hin bei objektiver Beurteilung darauf einrichten darf und eingerichtet hat, dieser werde sein Recht nicht mehr geltend machen, so dass die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt. Zu dem Zeitablauf muss das Umstandsmoment hinzutreten, das heißt, es müssen besondere, auf dem Verhalten des Berechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr geltend machen; ferner muss sich der Verpflichtete aufgrund des geschaffenen Vertrauenstatbestands in seine Maßnahmen so eingerichtet haben, dass ihm durch die verspätete Geltendmachung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde.  Zeit- und Umstandsmoment können nicht voneinander unabhängig betrachtet werden, sondern stehen in einer Wechselwirkung. Ob eine Verwirkung vorliegt, richtet sich letztlich nach den vom Tatrichter festzustellenden und zu würdigenden Umständen des Einzelfalls.

Bei Fahrzeugen, die vom Diesel-Abgasskandal betroffen sind, weil sie etwa mit unzulässigen Abschalteinrichtungen („defeat devices“) ausgestattet waren, dürfte eine Verwirkung vor Kenntniserlangung von der Betrugssoftware schlechterdings nie eintreten. Abschalteinrichtungen sind Konstruktionsteile (meist Programmbestandteile der Motorsteuerung), die die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermitteln, um die  Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird. Abschalteinrichtungen dieser Art sind nicht nur in den bereits zugestandenen Fahrzeugen des Herstellers Volkswagen (Motortyp EA189 etc.) vorhanden, sondern auch in vielen Fahrzeugtypen anderer Herstellern, auch und gerade bei Fahrzeugen der Schadstoffklasse „Euro 6“.

Der Fahrzeugkäufer hat unbestreitbar ein berechtigtes Interesse daran, ein normgerechtes Fahrzeug zu erhalten, das die gesetzlichen Stickstoffdioxid-Grenzwerte auch einhält und die Abgasreinigung im Normalbetrieb nicht abschaltet. Solange der Kunde also keine Kenntnis von den systematisch herbeigeführten Grenzwertüberschreitungen hatte, kann ihm die Nichtausübung seines Widerrufsrechts weder unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung noch als unzulässige Rechtsausübung vorgehalten werden. Im Rahmen der erforderlichen Abwägung der Umstände des Einzelfalls ist im Übrigen zu berücksichtigen, dass das Vertrauen von Volkswagen und anderer Hersteller (BMW, Audi, Mercedes)  darauf, dass der Kunde den Betrug nicht bemerkt, nicht schutzwürdig ist. Die Hersteller können sich also nicht darauf berufen, dass der Kunde vor dem Bekanntwerden Dieselskandals von seinem Widerrufsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. Anderenfalls würde derjenige Hersteller privilegiert, der seine Kunden und das Kraftfahrt-Bundesamt besonders raffiniert täuscht.   Allein aufgrund eines langjährigen vertragsstreuen Verhaltens des Verbrauchers kann der Hersteller kein schutzwürdiges Vertrauen darauf bilden, der Verbraucher werde seine auf Abschluss des Verbraucherdarlehensvertrags gerichtete Willenserklärung nicht widerrufen. Es kommt für das Umstandsmoment auch nicht darauf an, wie gewichtig der Fehler ist, der zur Wirkungslosigkeit der Widerrufsbelehrung führt. Der Verbraucher ist entweder belehrt oder nicht. Die Bank wird dadurch auch nicht unbillig belastet. Es ist ihr während der Schwebezeit bei laufenden Vertragsbeziehungen jederzeit möglich und zumutbar, durch eine Nachbelehrung des Verbrauchers die Widerrufsfrist in Gang zu setzen.

Zwar wird die Verwirkung des Widerrufsrechst umso eher anzunehmen sein, wenn der Verbraucher in Kenntnis seines fortbestehenden Rechts untätig geblieben ist. Verwirkung hängt aber nicht davon ab, dass der Gläubiger sein Recht kennt. Es kommt auch nicht auf das Vertrauen des Darlehensgebers an, der Darlehensnehmer habe in sonstiger Weise Kenntnis vom Fortbestand seines Widerrufsrechts erlangt. Dass der Darlehensgeber davon ausgeht oder ausgehen muss, der Darlehensnehmer habe von seinem Widerrufrecht keine Kenntnis, schließt vielmehr eine Verwirkung nicht aus. Gleiches gilt für den Umstand, dass der Darlehensgeber „die Situation selbst herbeigeführt hat“, weil er eine ordnungsgemäße Belehrung nicht erteilt hat. Auch das Fehlen einer Nachbelehrung steht bei beendeten Verträgen der Annahme schutzwürdigen Vertrauens nicht entgegen. Es handele sich um eine Möglichkeit, nicht um eine Verpflichtung. Die Möglichkeit der Nachbelehrung besteht zwar nach Beendigung des Verbraucherdarlehensvertrags fort. Sie ist indessen nach Vertragsbeendigung nicht mehr sinnvoll möglich, weil die Willenserklärung des Verbrauchers, deren fortbestehende Widerruflichkeit in das Bewusstsein des Verbrauchers zu rücken Ziel der Nachbelehrung ist, für den Verbraucher keine in die Zukunft gerichteten wiederkehrenden belasteten Rechtsfolgen mehr zeitigt.

So kann gerade bei beendeten Verbraucherverträgen das Vertrauen des Unternehmers auf ein Unterbleiben des Widerrufs schutzwürdig sein, auch wenn die von ihm erteilte Widerrufsbelehrung ursprünglich den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprach und er es in der Folgezeit versäumt hat, den Verbraucher nachzubelehren. Das gilt im besonderen Maße, wenn die Beendigung des Darlehensvertrags auf einen Wunsch des Verbrauchers zurückgeht bzw. wenn die Parteien den Darlehensvertrag einverständlich beendet haben.

Abschließend ist noch anzumerken, dass die Ausübung des Widerrufsrechts nicht allein deshalb rechtsmissbräuchlich ist, weil sie nicht durch den Schutzzweck des Verbraucherwiderrufsrechts motiviert ist. Aus der Entscheidung des Gesetzgebers, den Widerruf von jedem Begründungserfordernis freizuhalten, folgt zugleich, dass ein Verstoß  gegen Treu und Glauben nicht daraus hergeleitet werden kann, der vom Gesetzgeber mit der Einräumung des Widerrufsrechts intendierte Schutzzweck sei für die Ausübung des Widerrufsrechts nicht leitend gewesen. Überlässt das Gesetz – wie das Fehlen einer Begründungspflicht zeigt – dem freien Willen des Verbrauchers, ob und aus welchen Gründen er seine Vertragserklärung widerruft, kann aus dem Schutzzweck der das Widerrufsrecht gewährenden gesetzlichen Regelung grundsätzlich nicht auf eine Einschränkung des Widerrufsrechts nach Treu und Glauben geschlossen werden.

Fazit: Ein Widerruf ist auch nach dem Ende des Darlehensvertrages noch möglich; das Recht auf den Widerruf ist nicht automatisch verwirkt. Eine Verwirkung ist denkbar, setzt aber ein Zeit- und ein Umstandsmoment voraus. Der Widerruf sollte möglichst zeitnah zur  Beendigung des Verbraucherdarlehnsvertrags erfolgen.

Dr. Kay Wagner

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Berlin, 12.04.2018