Placebo Musterfeststellungsklage

-In „Diesel-Fällen“ für Verbraucher eher schädlich als nützlich-

Der Gesetzgeber hat den Diesel-Abgasskandal zum Anlass genommen, mit der Musterfeststellungsklage ein neues Rechtsmittel einzuführen, das Verbrauchern bei der Durchsetzung von Ansprüchen gegen die Hersteller mangelhafter Produkte helfen soll. Ziel der Musterfeststellungsklage ist es, dem gegenüber den Herstellerkonzernen strukturell unterlegenen Verbraucher in die Lage zu versetzen, auch kleinere mangelbedingte Schäden durchzusetzen, deren Klärung in einem Individualrechtsstreit zu aufwendig wäre und die finanziellen Ressourcen der Betroffenen, die sich einer Phalanx von Konzernanwälten gegenüber sähen, übersteigen würde.

Zur Erhebung von Musterfeststellungsklagen sind nur qualifizierte Einrichtungen befugt, die eine Reihe strenger Voraussetzungen erfüllen müssen. Sie müssen zunächst die Anforderungen von § 4 des Unterlassungsklagegesetzes erfüllen. Darüber hinaus dürfen die qualifizierten Einrichtungen nicht gewerbsmäßig tätig sein. Musterfeststellungsklagen dürfen nicht zum Zwecke der Gewinnerzielung erhoben werden. Die qualifizierten Einrichtungen dürfen ferner nicht mehr als 5 % ihrer finanziellen Mittel durch Spenden von Unternehmen beziehen. Sie dürfen insbesondere nicht –etwa durch ein Erfolgshonorar- an den erstrittenen Schadensersatzbeträgen beteiligt werden

(vgl. BGH Urteil v. 13.09.2018, I ZR 26/17 –zur Gewinnabschöpfungsklage nach § 10 UWG).

Der Gesetzgeber ist damit einmal mehr seinem Mantra gefolgt, wonach eine „Klageindustrie“ verhindert werden solle. Die strikte Begrenzung der Aktivlegitimation auf qualifizierte Einrichtungen wird damit begründet, dass es anwaltlich initiierte Sammelklagen („class actions“) nach amerikanischem Vorbild nicht geben soll. Das gleiche Begründungsmuster hat der Gesetzgeber schon oft bemüht, so beispielswiese bei der Gewinnabschöpfungsklage nach § 10 UWG, die sich in der Praxis als zahnlos erwiesen hat.

Mit der herabsetzenden Bezeichnung „Klageindustrie“ wird suggeriert, die Sammelklagen seien nutzlos und dienten ausschließlich den Interessen der an ihr beteiligten Rechtsanwälte. Tatsächlich ist die amerikanische Sammelklage jedoch ein äußerst erfolgreiches und effizientes Institut zur Durchsetzung von Ansprüchen Geschädigter gegen scheinbar übermächtige Konzerne. Dies erscheint evident in Anbetracht einer rechtsvergleichenden Betrachtung der juristischen Behandlung des Skandals um illegale Abschalteinrichtungen bei VW-Dieselfahrzeugen: Strenge Umweltbehörden in Verbindung mit drohenden Sammelklagen haben in den Vereinigten Staaten dazu geführt, dass die VW-Kunden sämtliche Dieselfahrzeuge gegen Erstattung des vollen Kaufpreises und ohne Anrechnung einer Nutzungsentschädigung zurückgeben konnten und die Käufer darüber hinaus einen pauschalen Schadenersatz erhalten. Die vom deutschen Gesetzgeber zur Leitlinie erhobene These, wonach eine „Klageindustrie“ dem Verbraucher nicht nutze, ist mithin falsch und dient letztlich nur der Verschleierung der wirklichen Intention. Tatsächlich geht es dem Gesetzgeber ersichtlich nicht um die Durchsetzung von Verbraucherrechten, sondern ganz im Gegenteil um den Schutz der Industrie vor hohen Schadensersatzverpflichtungen.

Das Verfahren der Musterfeststellungsklage hat im Vergleich zu einer Individualklage des Betroffenen eine Reihe von Nachteilen:

1. Zeitverlust und Wertverlust

Zum einen führt die Musterfeststellungsklage zu einer erheblichen Verzögerung der rechtskräftigen Klärung der Schadensersatzansprüche des Verbrauchers. Das Musterfeststellungsverfahren entfaltet eine Sperrwirkung in doppelter Hinsicht. Zum einen ist die Erhebung einer weiteren Musterfeststellungsklage zum gleichen Lebenssachverhalt unzulässig. Ferner können zum Klageregister angemeldete Verbraucher nicht parallel eine Individualklage erheben, um ihre Anspruchsdurchsetzung zu beschleunigen. Wer sich also zum Register anmeldet, muss auf den Ausgang des Musterfeststellungsverfahren abwarten und kann nicht parallel schon eine eigene Klage erheben. Der Verbraucher muss also zunächst den Ausgang der Musterfeststellungsklage abwarten und anschließend in einem Individualverfahren den ihm konkret zustehenden Schadensersatz geltend machen.

Allein das Musterfeststellungsverfahren wird wegen des Umfangs und der technischen Komplexität der zu klärenden Einzelfragen voraussichtlich mehrere Jahre andauern, sofern keine gütliche Einigung erzielt wird. Die Revision zum BGH ist für alle Musterfeststellungsurteile zugelassen, da sie vom Gesetzgeber per se als von grundsätzlicher Bedeutung angesehen werden. Daher ist mit einer Gesamt-Verfahrensdauer von mindestens drei bis vier Jahren zu rechnen, innerhalb derer sich der Schadensersatzbetrag durch die Fahrzeugnutzung erheblich reduziert haben wird.

In dieser Zeit verbleibt das Fahrzeug im Besitz des betroffenen Verbrauchers. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sich die Verbraucher auch bei erfolgreichem Ausgang der Musterfeststellungsklage die gezogenen Nutzungen anrechnen lassen müssen. Die Vorteilsausgleichung gehört zu den Grundprinzipien des deutschen Schadensersatzrechts. Der Geschädigte soll durch die Schadensersatzleistung nicht besser gestellt werden, als er ohne Schadenseintritt stünde. Daraus folgt, dass sich der von den Herstellern zu leistenden Schadensersatz von Monat zu Monat reduziert.

Es sind sogar Fälle denkbar, in denen die gezogenen Nutzungen den zu erstattenden Kaufpreis vollständig aufzehren, sich eine Rückabwicklung des Fahrzeugkaufs also nicht mehr lohnen würde. Die mit der Musterfeststellungsklage ins Land gehende Zeit „arbeitet“ daher für die Hersteller.

2. Zusätzliche Kosten

Auch der weitere vom Gesetzgeber verfolgte Zweck, die Begrenzung des Kostenrisikos der Verbraucher, dürfte in vielen Fällen verfehlt werden. Der Verbraucher muss letztlich zwei Verfahren betreiben, um seinen Schadensersatz durchzusetzen. Er muss sich zunächst gemäß § 608 ZPO zur Musterfeststellungsklage anmelden, den Ausgang dieses Verfahrens abwarten und anschließend im Nachverfahren seine individuellen Ansprüche einklagen. Das Nachverfahren mag zwar einfacher zur führen sein, da einzelne Feststellungen zu Grundfragen im Musterfeststellungsverfahren bereits getroffen wurden. Hierdurch reduziert sich indes nicht der Gebührenstreitwert für seinen Schadensersatz.

Anders als in der amtlichen Begründung zum Gesetzentwurfs suggeriert wird, entstehen dem Verbraucher durch die Anmeldung seiner Ansprüche zu einer anhängigen Musterfeststellungsklage durchaus auch Kosten. Der Anmelder muss sich zwar nicht an den Gerichtskosten beteiligen; es entstehen ihm aber Anwaltskosten. Die Formulierung der im Rahmen der Anmeldung nach § 608 ZPO zu machenden Angaben wird regelmäßig die Einschaltung eines Rechtsanwalts erfordern. Denn die Bindungswirkung des rechtskräftigen Musterfeststellungsurteils nach § 613 ZPO tritt nur ein, sofern und soweit die Anmeldung wirksam war und das vom Verbraucher angemeldete Rechtsverhältnis „die Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Musterfeststellungsklage betrifft“.
Weil das Bundesamt für Justiz die Anmeldungen ohne inhaltliche Prüfung (vgl. § 608 Abs. 2 S. 3 ZPO) in das Klageregister einträgt, hätte eine falsche Anmeldung für den Verbraucher in doppelter Hinsicht schädliche Folgen. Er könnte sich nicht auf die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils berufen. Sein Anspruch wäre ferner verjährt, da auf die Verjährungshemmung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1a n. f. BGB nur dann eintritt, wenn der Gläubiger seinen Anspruch zum Klageregister wirksam angemeldet hat und dem angemeldeten Anspruch derselbe Lebenssachverhalt zu Grunde liegt wie den Feststellungszielen der Musterfeststellungsklage.
Kurzum, eine fehlerhafte Anmeldung kann für den Verbraucher zu einem Totalverlust seiner Ansprüche führen. Deshalb ist die Einbeziehung eines Rechtsanwalts bei der Kongruenzprüfung der Sachverhalte und Formulierung der Anmeldung dringend zu empfehlen.

Fazit:
Der Gesetzgeber hat mit der Musterfeststellungsklage einmal mehr ein bürokratisches Monster geschaffen, das jedenfalls in den Diesel-Fällen die Geltendmachung berechtigter Ansprüche verzögert und den Verbrauchern eher schadet.